Mikroaggression: Was zunächst nach einem kleinen und unbedeutenden Fehlverhalten eines einzelnen Menschen klingt, kann für marginalisierte Personen große Auswirkungen haben. Denn oft summieren Mikroaggressionen sich im Alltag. Sie wirken sich auf das individuelle Wohlbefinden sehr negativ aus. Um das Arbeitsumfeld inklusiver zu gestalten, müssen wir uns Mikroaggressionen einmal genauer anschauen.
Der Begriff Mikroaggression stammt aus der Sozialpsychologie und wurde erstmals in den 1970er Jahren durch den US-amerikanischen Psychiater Chester Pierce geprägt, der als Professor an der Harvard Universität lehrte. Er fand damit einen Begriff, um die Angriffe weißer Menschen auf die Würde Schwarzer Menschen zu bezeichnen. Für Menschen, die die normative Mehrheit in der Organisation darstellen (z.B. weiße, heterosexuelle cisgender Frauen oder Männer ohne Behinderung) bleiben Mikroaggressionen ganz oft unbemerkt. Und das ist natürlich ein Hindernis für eine inklusive Arbeitskultur.
Für marginalisierte Menschen, wie zum Beispiel Schwarze Menschen und People of Color, Menschen die sich als LGBTQIA+ identifizieren, muslimische Menschen oder auch behinderte Menschen kann das ganz anders aussehen. So ist es zum Beispiel für Personen ohne Rollstuhl schlichtweg erst mal schwierig zu bemerken, dass das Büro eigentlich nur über eine Treppe erreichbar und das Gebäude somit nicht zugänglich für diese Personen ist. Oder es ist unklar, dass die Frage „Woher kommst du, ich meine wirklich?“ ausgrenzend und rassistisch ist. Oder es fehlt das Bewusstsein, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und einer Person wird das falsche Gender zugeschrieben.
Stereotype Threat – oder: extremer Anpassungsdruck
Dieses fehlende Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft für verschiedene Perspektiven und Bedürfnisse führt dazu, dass marginalisierte Menschen größte seelische Anstrengungen vornehmen, um sich der Mehrheit anzupassen. Eine Überlebensstrategie, um den sog. Stereotype Threat besser managen zu können: Die Befürchtung, auf Basis negativer Stereotype verurteilt zu werden oder negative Stereotype zu bestätigen, die bezüglich der Gruppe existieren, in welche die Person eingeordnet wird. Das fühlt sich bedrohlich an und wirkt sich deutlich mindernd auf die individuelle Leistung aus, wie eine Studie der Universität Ulm zeigt.
Wie es sich anfühlt
Die Zeit-Journalistin Vanessa Vu beschreibt ihr Gefühl in Bezug auf eine Mikroaggression über die Wo-kommst du-her-Frage so:
„Man kann sich das wie Nadelstiche vorstellen: Ein Pikser verletzt kaum, aber alle paar Tage gestochen zu werden, macht die Haut wund. Und niemand bringt Salbe. Niemand entschuldigt sich. Niemand fragt, was er oder sie für mich tun kann. Die Leute beschweren sich stattdessen über meinen Schmerz, etikettieren ihn als Diskursunfähigkeit und reden darüber, wie sie es gemeint haben.“
Ich kenne Mikroaggressionen ebenfalls aus meiner eigenen Erfahrung und bin kann dieses von Vanessa Vu beschriebene Gefühl daher sehr gut nachvollziehen. Menschen, die strukturell weniger diskriminiert sind, müssen daher lernen, was eine Mikroaggression ist und wie sie ihr Verhalten ändern können. Denn oft ist eine Frage oder Aussage gut gemeint, reißt beim Gegenüber aber dennoch eine Wunde auf.
Beispiele für Mikroaggressionen sind:
- Unterbrechen von Menschen in Meetings bzw. Ideenklau (das betrifft oft Frauen besonders)
- Wortbeiträge im Meeting schlicht ignorieren oder als nicht wichtig genug abtun
- den als nicht-deutsch markierten Namen mehrfach falsch aussprechen oder Witze darüber machen
- sexistische, rassistische, homo- und/oder transfeindliche, ableistische Witze machen (Ableismus = Diskriminierungspraxis über Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen)
- Wenn heterosexuelle cisgender Männer einen homosexuellen cisgender Mann auffordern, sich jetzt mal „wie ein Mann“ zu verhalten
- eine Person mit dem falschen Pronomen ansprechen
- Frauen sagen, dass sie jetzt mal runterkommen und nicht so emotional sein sollen
- Kommentare, die auf Stereotypen basieren: Wenn eine afrodeutsche Frau gesagt bekommt, dass sie aber gut Deutsch spricht, oder auch: „Es ist heiß heute, aber du kennst das ja von da wo du herkommst“
- „Für mich sind alle Menschen gleich“ – gut gemeint, ignoriert aber den Fakt, dass Personen und Gruppen strukturell aufgrund von verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen diskriminiert werden
- Privilegien die nur bestimmten Gruppen gestattet werden (Fortbildungen werden zum Beispiel nur cisgender Männern genehmigt, nicht aber cisgender Frauen)
- sexistische Kommentare über die Kleidung oder Körper von Kolleg*innen
- den Rollstuhl einer Person ungefragt als Taschenablage nutzen (danke an Raul Krauthausen)
- …
Liste über Racial Microaggressions der University of Minnesota (englischsprachig)
Stress im Job ist der Nährboden für Mikroaggressionen
Gerade, wenn es besonders stressig im Berufsalltag ist, können Mikroaggressionen schnell passieren. Das Gehirn greift in stressigen Situationen besonders gerne auf bekanntes, stereotypes Denken und Vorurteile zurück, weil es ressourcenschonender ist. Das erschwert jedoch ein neues, weniger diskriminierendes Verhalten. In dieser Situation kurz inne zu halten und zu reflektieren kann schon helfen. Nächstes Mal wirst du es einfach besser zu machen und dich dieses Mal aufrichtig entschuldigen.
Ein vollgepackter Arbeitsalltag ist keine nämlich keine gute Ausrede: Denn die Pikser passieren auf dem Rücken der marginalisierten Personen.
Der Psychologe Derald Wing Sue hat den Begriff Mikroaggressionen vor einem Jahrzehnt wiederbelebt. Er beschreibt diese seelische Herausforderung in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk so:
„Und diese Botschaft ruft natürlich Stress im Gehirn aus. Das heißt, es werden Stresshormone oder Neurotransmitter, im Volksmund sagen wir Hormone, Nervenbotenstoffe, die Stress darstellen, die werden ausgeschüttet und das Gehirn sendet Signale aus und sagt: Du kannst vernichtet werden. Und aufgrund dieser Antwort vom Gehirn können wir auch von einer biologischen Tötung sprechen, wenn es um racial Microaggression geht.“
Genau das ist das Gegenteil von Inclusion. Und es ist auch das Gegenteil dessen, was Diversity Strategien bewirken sollen: Dass jede Person ihr volles Potenzial einbringen und verwirklichen kann und dass sie dafür wertgeschätzt wird.
Inklusiv miteinander arbeiten
Für ein inklusives Arbeitsumfeld ist es daher besonders wichtig, das Miteinander im Team genauer anzuschauen und subjektive Perspektiven zu hören. Denn vielleicht fühlt sich für dich in deinem Team alles optimal an – für deine lesbische Kollegin aber vielleicht nicht, weil sie zum Beispiel das Gefühl hat, sich so nicht zeigen zu dürfen. Das bedeutet dann nicht, dass sie zu sensibel ist. Es bedeutet vielmehr, dass ihr als Team daran arbeiten müsst, die Unternehmenskultur für marginalisierte Personen und verschiedene Bedürfnisse angenehmer zu gestalten. Mikroaggressionen können von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ausgeprägt sein. Vielleicht fallen dir auch noch ganz andere Situationen ein.
Meine Idee für dich ist daher:
- Beginnt typische Situationen unternehmensweit in einer Liste zu sammeln.
- Wichtig: Das empfehle ich nicht, wenn D&I für deine Kolleg*innen neu ist, sie erst mal ein Training brauchen und es noch wenig Offenheit auf der Führungsebene und in der Unternehmenskultur gibt. Dann sind erst mal andere Themen dran. Falls du dich fragst welche, kontaktiere uns gerne für deinen Strategie.
- Stelle dieses Dokument in einer Cloud zur Verfügung, damit Personen anonym ihre Beobachtungen schreiben können. Es muss jedoch zu deiner Unternehmenskultur passen.
- Geht es als Team aktiv an: Macht regelmäßige Umfragen über das Wohlbefinden und Zugehörigkeitsgefühl im Team, sprecht darüber und arbeitet mit versierten Expert*innen wie uns – z.B. für eine Inclusion Survey.